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Wissenschaft

Chimären: So sollen gentechnisch erzeugte Misch-Wesen der Medizin helfen

  • Veröffentlicht: 07.05.2024
  • 11:00 Uhr
  • Julia Wolfer

Chimären sind Organismen mit Zellen oder Geweben von mindestens zwei genetisch unterschiedlichen Lebewesen, zum Beispiel Affe und Mensch. Aber wozu ist die Chimären-Forschung gut?

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Chimären in der Forschung: Das Wichtigste zum Thema

  • In der griechischen Mythologie ist eine Chimäre ein Misch-Wesen aus Löwe, Ziege und Drache. Auch das ägyptische Fabelwesen Sphinx ist eine Chimäre.

  • In der Wissenschaft versteht man heute unter Chimären Organismen, die aus Zellen oder Geweben von mindestens zwei genetisch unterschiedlichen Lebewesen derselben oder verschiedener Arten bestehen.

  • Es wurden bereits mehrere solcher Misch-Wesen im Labor erzeugt, zum Beispiel Maus-Ratte-Chimären, chimäre Affen oder Schweine- und Affen-Embryos mit menschlichen Zellen.

  • Forscher:innen hoffen durch Chimären-Forschung  Tiere mit menschlichen Organen züchten zu können und so den Mangel an Spender-Organen zu bekämpfen.

  • In Deutschland ist Chimären-Forschung nicht grundsätzlich verboten. Der Forschungsbereich ist allerdings umstritten und wirft viele ethische Fragen auf.

Inhalt

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Was genau ist eine Chimäre?

In der griechischen Mythologie ist eine "Chimära" ein feuerspeiendes Misch-Wesen aus Löwe, Ziege und Drache. Auch die Sphinx, Wolpertinger, Zentauren oder Meerjungfrauen sind Chimären: Fantasie-Lebewesen, die aus verschiedenen Tieren zusammengesetzt sind.

Chimären gibt es tatsächlich – wenn auch ganz anders, als man sich das in der Mythologie vorgestellt hat. Heute bezeichnet man in der Wissenschaft Organismen als Chimären, die aus Zellen oder Geweben von mindestens zwei genetisch unterschiedlichen Lebewesen aufgebaut sind.

Chimären: Wie werden die Misch-Wesen erzeugt?

Chimären können auf natürlichem Wege entstehen, zum Beispiel durch Fusion von genetisch nicht identischen Zwillingen. Nach dieser Definition sind auch Mütter "Mikro-Chimären", weil sich in ihrem Körper auch nach der Geburt noch Zellen ihrer Kinder befinden.

Chimären werden aber vor allem künstlich im Labor erzeugt. Bereits seit den 70er-Jahren wird daran geforscht. Durch gentechnische Eingriffe werden Zellen von einem Lebewesen in ein anderes eingebracht. Die Lebewesen können entweder derselben Art angehören – zum Beispiel von zwei Mäusen - oder zu unterschiedlichen Arten gehören, wie zum Beispiel Maus und Ratte oder Affen und Mensch.

Damit sich ein einheitlicher Organismus aus verschiedenen Zellen entwickeln kann, müssen die eingebrachten Zellen ein sehr hohes Entwicklungs-Potenzial aufweisen. Das ist zum Beispiel bei embryonale Stammzellen der Fall. Im anderen Organismus müssen diese Zellen in eine Umgebung eingebracht werden, in der ebenfalls ein hohes Entwicklungspotenzial vorliegt, wie zum Beispiel in einem frühen Embryonal-Stadium.

Bei einem Chimären-Experiment werden menschliche Stammzellen in einen frühen Schweine-Embryo injiziert.
Bei einem Chimären-Experiment werden menschliche Stammzellen in einen frühen Schweine-Embryo injiziert. © picture alliance / AP Photo /Salk Institute
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Chimäre erschaffen: Das sind die Möglichkeiten

  • Stammzellen eines Organismus werden in einen frühen Embryo (Blastozyste) eines anderen Organismus gespritzt. Dort verbinden sich die Stammzellen mit den vorhandenen Embryonal-Zellen. Es entsteht also eine Zellmasse, die aus den Zellen von zwei (oder mehr) verschiedenen Individuen besteht. Gemeinsam durchläuft diese Zellmasse anschließend den weiteren Entwicklungsprozess.
  • Ein anderer Weg ist, durch einen gentechnischen Eingriff im Embryo zu verhindern, dass sich ein bestimmtes Organ ausbildet, zum Beispiel die Bauchspeicheldrüse. Injiziert man in einem solchen Embryo Stammzellen eines anderen Organismus, besteht die Chance, dass die Stammzellen diese "Lücke" füllen. Die Bauchspeicheldrüse der Chimäre hat dann einen anderen genetischen Ursprung als große Teile des restlichen Organismus.

Dass die im Labor erzeugten Chimären aussehen wie das feuerspeiende Fabelwesen aus der griechischen Mythologie, ist eher unwahrscheinlich. Wie stark der Chimärismus ausfällt, hängt von der jeweiligen Methode ab und unterscheidet sich von Fall zu Fall sehr stark. Der Anteil der injizierten Zellen beträgt oftmals weniger als ein Prozent am gesamten Tier. Oftmals sieht man einer Chimäre also gar nicht an, dass sie aus Zellen unterschiedlicher Organismen aufgebaut ist.

Chimären-Beispiele: Diese Misch-Wesen wurden bereits gezüchtet

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Chimäre aus Tieren

Huhn-Wachtel-Chimäre

In den 80er-Jahren pflanzten Forscher:innen Hirngewebe aus Wachtel-Embryos in Hühner-Embryos ein (Studie). Einiger der geschlüpften Hühnerküken stießen anschließend Wachtel-typische Rufe aus.

"Schiege": Misch-Wesen aus Schaf und Ziege

Forscher:innen erzeugten in den 1980er-Jahren auch eine Chimäre durch Fusion eines Schaf-Embryos mit einem Ziegen-Embryo (Studie). Das Tier besaß sowohl Körperteile mit Schaf-Erbgut als auch Körperteile aus Zellen mit Ziegen-Erbgut.

Maus-Ratte-Chimäre

2010 erschuf der japanische Wissenschaftler Hiromitsu Nakauchi an der kalifornischen Stanford University Mäuse mit der Bauchspeicheldrüse einer Ratte (Studie). Wenige Jahre später gelang es umgekehrt, Ratten mit der Bauchspeicheldrüse einer Maus zu erschaffen.

Affen-Chimäre

Chinesische Forscher:innen haben 2023 einen aus Zellen verschiedener Embryonen bestehenden Javaneraffe zur Welt kommen lassen (Studie). Dabei wurden die Stammzellen eines Affen in den Embryo eines anderen Affen eingebracht. Das Tier wurde jedoch zehn Tage nach der Geburt eingeschläfert, da es unter Atemproblemen litt.

Chinesischen Forschern ist es gelungen, ein Misch-Wesen (Chimäre) im Labor zu kreieren und zur Welt zu bringen.
Chinesischen Forschern ist es gelungen, ein Misch-Wesen (Chimäre) im Labor zu kreieren und zur Welt zu bringen.© Cell Cao et al

Chimären mit menschlicher DNA

Mensch-Affe-Embryonen

2019 gelang es Forscher:innen aus China und Kalifornien, menschliche Stammzellen in den Embryo von Javaneraffen einzubringen und so einen Embryo aus Mensch und Affe zu erzeugen (Studie). Das Experiment wurde jedoch nach einigen Tagen kontrolliert abgebrochen, bevor die Embryos ausgereift waren. Es entstand dabei kein lebendiger Organismus; das ist in den USA und anderen westlichen Ländern verboten.

Menschliche Zellen in Schweine-Embryos

2017 wurde in den USA ein chimärischer Embryo aus Mensch und Schwein erschaffen (Studie). Diese entwickelten sich sechs Wochen lang im Körper einer Sau, bevor sie getötet wurden. In China wurden auch 2023 menschliche Zellen in einen Schweine-Embryo eingebracht (Studie). Die Nieren der Tiere bestanden zum Teil aus menschlichen Zellen und ähnelten der menschlichen Niere in ihrer Struktur.

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Welches Ziel hat die Erschaffung von Chimären in der Medizin?

In der Chimären-Forschung geht es nicht darum, "Frankensteins Monster" zu erschaffen, sondern tatsächlich um medizinisch relevante Ziele. Zum einen dienen die Experimente der Grundlagen-Forschung: An Misch-Wesen können zum Beispiel grundlegende biologische Prozesse erforscht und wichtige Fragen zur Embryonal-Entwicklung beantwortet werden.

Die Forschung kann auch dazu beitragen, das Verständnis von Krankheiten zu verbessern:

Die hinzugefügten Zellen können im Vorfeld gentechnisch so verändert werden, sodass sie zum Beispiel Symptome bestimmter Erkrankungen zeigen. Daran können neue Therapieansätze gegen Krebs oder andere Krankheiten entwickelt werden. Auch Medikamente und neue Impfstoffe könnten an Misch-Wesen mit menschlichen Zellen getestet werden. Tests an normalen Versuchstieren wie Mäusen sind oft nur bedingt auf den Menschen übertragbar, da sie sich ihr Stoffwechsel zum Teil stark von unserem unterscheidet.

Einige Forscher:innen hoffen auch, durch Chimären-Forschung eines Tages Krankheiten wie Diabetes Typ-1 heilen oder den Mangel an Spender-Organen bekämpfen zu können. So könnten eines Tages Schweine oder Rinder mit menschlichen Organen gezüchtet werden, die sich für eine Transplantation beim Menschen eignen. Nieren zum Beispiel, oder auch die Bauchspeicheldrüse.

➡️ Dass das möglich ist, konnte bereits der Wissenschaftler Nakauchi von der Stanford University zeigen: Er entnahm seinen chimären Versuchsratten ihre Mäuse-Bauchspeicheldrüse und gewann daraus die sogenannten Langerhans-Inseln. Das sind jene Zellen, die für die Insulin-Produktion verantwortlich sind und bei Diabetes Typ-1-Patienten durch das Immunsystem zerstört werden. Die Zelle transplantierte er zuckerkranken Mäuse - und konnte sie dadurch heilen.

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 Chimären-Forschung: Ist sie in Deutschland erlaubt?

Fortschritte im Bereich der Chimären-Forschung werden vor allem aus China, Japan oder den USA berichtet, nicht aus Deutschland. Doch auch in Deutschland ist Chimären-Forschung nicht grundsätzlich verboten - das gilt auch Mensch-Tier-Misch-Wesen.

Der Deutsche Ethikrat befasste sich bereits 2011 mit Chimären-Forschung und befand es für vertretbar, menschliche Zellen auf andere Säugetiere zu übertragen, sofern:

  1. der medizinische Nutzen groß,
  2. die Tierschutzrichtlinien erfüllt und
  3. die menschlichen Zellen erst übertragen werden, wenn der Tierembryo bereits Organe ausgebildet hat, um eine starke Chimärisierung zu verhindern.

Allerdings flossen die Forderungen des Deutschen Ethikrates nie in ein Gesetz ein. In Deutschland hängt es vor allem davon ab, welche Zellen verwendet werden: Solange keine Embryonen oder embryonalen Stammzellen von Menschen dabei verbraucht werden, fällt das Experiment weder unter das deutsche Embryonenschutzgesetz noch unter das Stammzellgesetz. Auch das Tierschutzgesetz steht dem nicht entgegen.

➡️ Demnach wäre das Experiment der Forscher:innen aus Kalifornien und China, bei dem 2019 Mensch-Affe-Embryonen erzeugt wurden, in Deutschland nicht verboten. Die menschlichen Stammzellen für das Experiment wurden zum Beispiel aus Hautzellen gewonnen, nicht aus menschlichen Embryonen. Zudem wurde der Versuch noch im Reagenzglas abgebrochen und der Embryo nicht von einem Muttertier ausgetragen.

Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es in Deutschland aber große ethische Bedenken gegen solche Experimente, weshalb es schwer ist, Genehmigungen dafür zu bekommen. So werden Genehmigungen nur erteilt, wenn es keinen alternativen Weg gibt, um das Forschungsziel zu erreichen.

In anderen Ländern, wie den USA oder China, ist die Skepsis dagegen deutlich geringer. Auch in Japan wurde 2019 erstmals erlaubt, Tier-Mensch-Chimären von Muttertieren bis zur Geburt austragen zu lassen.

Warum ist das Züchten von Chimären ethisch umstritten?

Die Chimären-Forschung wirft zahlreiche ethische Fragen auf und ist mit vielen Unsicherheiten verbunden:

  • Bei allen Tierversuchen stellt sich ganz grundsätzlich die ethische Frage, inwieweit wir Tiere für unsere Zwecke instrumentalisieren und unsere Bedürfnisse über das potenzielle Leid der Tiere stellen dürfen. Das gilt auch für Tiere in der Chimären-Forschung, die in ihrer Erscheinungsform unter Umständen komplett verändert werden, nur um menschlichen Zwecken zu dienen.
  • Bislang sind die Erfolge auf dem Gebiet der Chimären-Forschung eher gering, aber häufig mit sehr viel Tierleid verbunden. Auf eine lebend geborene Chimäre kommen meist Hunderte gescheiterte Versuche. Und auch die lebenden Chimären leiden unter gesundheitlichen Problemen, so wie der 2023 geborene chimäre Javaneraffe.
  • Zudem sind die medizinischen Risiken nach der Transplantation der gezüchteten Organe völlig unklar. Bei einem Chimären-Experiment wächst das Organ in einem Organismus mit völlig anderem Stoffwechsel und Hormonhaushalt heran. Wie sich dieses Organ nach der Transplantation verhält, ist kaum vorherzusagen.
  • Bislang lässt sich auch nicht genau steuern, zu welchen Zellarten sich die menschlichen Stammzellen im Organismus entwickeln. Es ist daher denkbar, dass menschliche Zellen auch in das Gehirn der Chimäre eindringen und kognitive Veränderung hervorrufen. So könnten echte Misch-Wesen zwischen Mensch und Tier entstehen. Die traditionelle westliche Ethik unterscheidet sehr klar zwischen dem moralischen Status von Menschen und Tieren. Durch Misch-Wesen wird diese klare Trennung infrage gestellt. Welchen moralischen Status sollen wir diesen Misch-Wesen zuschreiben?

Häufige Fragen zu Chimären-Forschung

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